ADHS
Mein persönlicher Erfahrungsbericht als lebenslang ADHS-Betroffener. Wie ich meinen Alltag erlebe und meistere, gelernt habe mich zu organisieren und zu strukturieren um den Fallen, die mir mein ADHS «stellte» zu umschiffen. Ich bin 1963 traumatisiert zur Welt gekommen, männlich und komme ursprünglich aus Süddeutschland, arbeite seit 1989 und lebe seit 1993 ohne Kinder im Mittelland der Schweiz.
17.06.2021
Liebe Menschen, denen ADHS im Erwachsenenalter kaum etwas sagt….
Wie erlebte und erlebe ich die Stigmatisierung?
Viele ADHS-Patienten werden, so meine eigene Erfahrung, nicht wegen dieses eigentlichen Befundes stigmatisiert, sondern oft wegen ihrer Eigenheiten oder ihres individuellen Verhaltens oder ihrer Form der Kommunikation. Nicht wenige Betroffene wissen nämlich gar nicht immer, dass Sie eine Form von ADHS haben. Den Zusammenhang bestimmten Verhaltens meinerseits und meines eigenen ADHS-Profils konnte ich selbst viele Jahre auch nicht erkennen. Ich lernte somit früh, dass ich «anders» bin und je nach Kontext leider auch «nicht in Ordnung» zu sein scheine.
Wie erlebte früher ich mein ADHS?
Am meisten bemerkenswert für mich war meine stete und unstillbare Neugier, die Jagd nach der Antwort auf das «Wie und wie genau?». Das kam in der Schule aber nicht in jedem Fach zum Tragen, da mich das Lerntempo oder einzelne Themenfelder hi und da manchmal unterforderte oder mich je nach dem schlicht gar nicht interessierte. Von verschiedenen Menschen in meinem Leben bekam ich wegen meines ADHS viele verschiedene Übernamen. Der Klassiker dabei war «Zappelphilipp», «Professor», «Schussel», u. a. Es blieb leider nicht immer nur bei diesen Übernamen. Am meisten fiel mir als Kind schon auf, dass mir meine Umgebung im Denken und Mitverfolgen immer viel, viel zu langsam war. Das stresste mich und ich stresste sie. Als Spiel-Kind, in der Pause und ausserhalb der Schule, war ich oft der Ideen- und Impulsgeber. Meine Ideen wie auch Bedenken waren gefragt. Das funktionierte, weil ich bis heute keinerlei Macht- oder Führungsansprüche aus mir heraus verspürte und verspüre. Im Deutschunterricht war ich lange Jahre eine richtige «Niete», weil ich -wegen meines Konzentrationsmangels- schlecht im Diktat, später aber auch beim Aufsatzschreiben war. Besonders meine Gedanken verständlich aufzuschreiben, war lange ein Manko von mir. Meine Schulischen Prüfungen meisterte ich nur deshalb gerade so, weil meine Eltern mir ziemlichen Druck machten. Erst in der Berufslehre zum Kaufmann und bei späteren Erwachsenen IT-Weiterbildungen war es besser, weil es dort weniger Stoff zu verarbeiten, weniger Wochen-Schulstunden, weniger Lehrende und weniger Klassenkamerad/innen gab. Aber auch weil mir die IT stets logisch und leicht verständlich erschien. Zum Lesen musste ich mich allerdings schon immer Zwingen. Zum Glück entdeckte ich Anfang der 90’er Jahre die Hörbücher noch später «Erklär-Videos» für mich. Was ’n Segen!
Wie erlebe ich heute mein ADHS?
Heute bin ich immer noch neugierig, wach in bestimmten Themenbereichen Neuem gegenüber sehr aufgeschlossen. Im Weiteren macht sich immer stark bemerkbar, was schon als Kind spürbar war; Meine mangelnde Konzentrationsfähigkeit über eine längere Zeit hinweg. Ganz besonders beim Lesen. Meine ebenfalls ausgeprägte Abstraktionsfähigkeit und mein weitgehend vernetztes Denken lassen mich -auch unkonventionelle- Lösungsansätze und -varianten entwickeln. Weiter bin ich heute, als Folge der Entwicklung der letzten Jahrzehnte, eher als hochsensibel und hellsichtig einzustufen, was sich im Zusammenhang mit ADHS so zeigt, dass ich schnell «genug» habe mit Anderen. Zu viele Eindrücke von Geräuschen, Gerüchen, Bildern, Sprachen, etc. auf einmal oder (noch schlimmer) in Kombination, erschöpfen mich ziemlich rasch und lösen manchmal starke Fluchtgedanken aus. Neben einer immer noch geringen nervlichen Belastbarkeit, die sich eher verstärkt hat, stosse ich mit meiner raschen Auffassungsgabe mir noch nicht so vertraute Menschen vor den Kopf. Dies, indem ich gedanklich zu viele Schritte auf einmal durchführe und äussere. Mit Achtsamkeit von meiner Seite umschiffe ich diese Klippen meist, jedoch gelingt mir das nicht immer rechtzeitig. Heute bin ich etwas zurückhaltender, aber auch gelassener geworden, weil ich aus den Jahren zuvor z. T. schmerzhaft, lernen musste, mein Gegenüber nicht zu überfordern, nicht zu stressen. Ich selbst empfinde das oft als spürbare Einschränkung meiner Impulse, meines Seins.
Wie erlebt meine Umgebung heute mich mit meinem ADHS?
Ein sehr bildhafter Ausdruck und eine achtsamere Sprache helfen mir heute meine Gedanken besser auf den Punkt zu bringen. Da ich mich heute schriftlich verständlicher ausdrücken kann, erreichen meine Schriftstücke heut’ die jeweilige Zielgruppe. Meine Kommunikationsfähigkeit lässt mich Gedanken gegenüber Führungsgremien und Auftraggebern sehr gut auf den Punkt bringen. Dabei fällt meine ausgeprägte Um- und Weitsicht positiv ins Gewicht. Weiter, «klinke» ich mich heute zum Selbstschutz rasch dann aus, wenn viele Menschen um mich sind oder ich mich in einer Umgebung aufhalten und/oder bei der viele äussere Reize auf mich wirken. Zusätzlich begegne ich Angebote zu Lesen oft mit Zurückhaltung, weil ich erfahrungsgemäss weiss, ich werde damit eh nie fertig wird, erst gar nicht anfange zu lesen bzw. verliere beim Lesen immer wieder den Faden. Wenn immer höre oder schaue ich deshalb lieber zu. Diese zum Selbstschutz aufgebaute Zurückhaltung wird manchmal von Dritten im ersten Impuls als Zurückweisung aufgefasst. Ebenfalls zu meinem ADHS gehört, dass ich einzelne Vorhaben planen muss. Ohne diese gehe ich Vorhaben dann lieber nicht an, weil ich mich sonst darin hoffnungslos verliere, hängen bleibe oder erst gar nicht anfange («Aufschieberitis»). Dritte können das nicht immer nachvollziehen. Da ich heute noch mehr als früher intuitiv schon eine Situation mega-rasch in vielen Dimensionen gleichzeitig erfasse, komme ich besonders bei unsicheren Menschen als «Besserwisser» o. ä. ‘rüber. Auch hier komme nicht darum herum, mich oft stark zurückzunehmen, um möglichen Abgrenzungsreaktionen aus dem Wege zu gehen.
Was darfst Du von mir, als ADHS-Betroffener, wünschen?
Nun, wie Du aus vorangegangenen Ausführungen ableiten kannst, habe ich mich sehr gut «im Griff», was mir hilft «sozialverträglich» zu erscheinen und «smoother» wahrgenommen werden. Mit dem Erlernen einer gesunden eigenen Impulskontrolle kann ich heute viel besser mit belastenden Situationen umgehen also früher. Wenn mich heute jemand bremst, weil zu viel, zu schnell und zu komplex, nehme ich das schon lange nicht mehr persönlich. Na ja, meistens eben… Da macht der «Ton die Musik».
Was wünsche ich mir von meiner Umgebung, von den Menschen, die mir begegnen?
«Ich bin OK und Du bist OK». Gerne lebe ich diesen Umgangs-Slogan. Ich habe auf meinem Weg zur eigenen gesunden Entfaltung bis heute gelernt, dass ich für mich Verantwortung übernehme. Von Dir wünsche ich mir nämlich «nur», dass Du mich so sein lässt wie ich bin, aber gewaltfrei für Dich und Deine Bedürfnisse einstehst. Ich geh’ heute davon aus, dass Du mir «nix Böses» willst. Geh’ bitte bei mir, der sich nicht immer massetauglich und nicht ganz angepasst verhält, allerdings auch davon aus.
Vertraut mir, wenn ich ‘was sage, dann ist es meist fundiert, überlegt und abgeklärt. Wenn ihr etwas nicht versteht, was von mir kommt, fragt nach und interpretiert nichts «Negatives» hinein, das verletzt mich teils sehr. Auch wünsche ich mir, mich nicht rechtfertigen zu müssen, wenn meine Verhaltensmuster von dem «der Mehrheit» sich z. T. deutlich unterscheiden. Ihr bringt mich damit sonst arg in Verlegenheit und mein Wunsch zum Rückzug erhält so unwillkommene Nahrung. Hier bin ich nämlich noch weiter im Aufbau einer noch gesünderen Resilienz.
Es erscheint mir sehr wichtig hervorzuheben, dass ADHS bei Erwachsenen, aber auch bei Kindern und Jugendlichen, sich nie genau gleich zeigt. Die jeweilige ADHS-Ausprägung einzelner unterscheidet sich manchmal recht deutlich von dem anderer.
Albert-M. N.