Diagnose «Schizophrenie»
Bitte habt keine Angst vor Menschen, denen die Diagnose «Schizophrenie» gestellt wurde.
28. Mai 2021
Liebe Mitmenschen
Mit diesem offenen Brief möchte ich euch einen Einblick in mein Leben geben. Die Ärzte haben mir die Diagnose paranoide Schizophrenie gestellt. Ich fühle mich jedoch nicht krank und bin aktuell auch nicht psychotisch. Es gibt unterschiedliche Verläufe von Schizophrenie und ich kann nicht für alle sprechen, sondern erzähle hier nur von meiner Erfahrung. Für mich gehören Psychosen zu meinem Leben. Meistens habe ich in akuten Krisen sehr viel Angst gehabt. Ich war überzeugt, dass ich beobachtet und überwacht werde, dass andere Menschen schlecht über mich denken und mich verurteilen. Ich hatte riesige Schuldgefühle. Ich habe aber nie Stimmen gehört. Für mich ist die westliche, medizinische Sichtweise von Psychosen als Krankheit des Gehirns nicht hilfreich. Ich sehe meine Psychosen inzwischen als eine Art Hilferuf meiner Seele, dass die geistigen und körperlichen Anteile meines Lebens nicht (mehr) im Gleichgewicht sind. Während meiner Psychosen hat mich insbesondere die Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigt. Medikamente fand ich nur sehr kurzzeitig hilfreich, um wieder schlafen zu können und zur Ruhe zu kommen. Aber Psychopharmaka haben alle meine Gefühle unterdrückt, sodass ich keinen Zugang mehr zu ihnen hatte und mich leer fühlte. Das Leben macht keine Freude mehr, wenn man sich für nichts mehr interessiert. Ich hatte auch starke körperliche Nebenwirkungen, wie eine Gewichtszunahme von über 25 kg innerhalb von wenigen Wochen. Mein Selbstbewusstsein und mein Selbstvertrauen waren zerstört. Es ist schwierig, jemandem zu vertrauen, wenn man nicht einmal sich selbst vertrauen darf. Denn mir wurde gesagt, dass meine Wahrnehmungen falsch und krank seien. Das hat mir buchstäblich den Boden unter den Füssen weggezogen. Meine Wahrnehmung ist in psychotischen Phasen tatsächlich ganz anders als sonst. Aber falsch ist sie deswegen nicht. Wie kann jemand mit Sicherheit wissen, dass es etwas nicht gibt?
Zum Beispiel riechen Hunde viel besser als Menschen. Aber nur weil wir etwas nicht riechen, ist es deshalb nicht «falsch» wahrgenommen von den Hunden. Im Gegenteil, man kann sich ja diesen super Geruchssinn zu Nutze machen. Beispielsweise gibt es Hunde, die eine Unterzuckerung (bei Menschen mit Diabetes) riechen, bevor der Mensch es selbst merkt.
Nach meiner Erfahrung sind Menschen, denen die Diagnose Schizophrenie gestellt wurde, sehr sensible Wesen. Diese Feinfühligkeit ist in Wirklichkeit eine Gabe und keine Schwäche. Diesen Menschen den Zugang zu ihren Gefühlen mit starken Medikamenten zu kappen und ihre Wahrnehmung für krank zu erklären, macht sie kaputt. Was mich an meiner Diagnose am meisten beeinträchtigt, sind nicht die Symptome an sich, sondern die Art, wie ich behandelt wurde. Ich hatte eine Todesangst und wurde zu meinem Schutz in ein Zimmer eingesperrt. Als ich nicht einverstanden damit war, Medikamente zu schlucken, wurde mir eine Spritze angedroht. Die Medikamente wieder abzusetzen, ist fast unmöglich oder man muss es ohne Unterstützung machen. Wenn man sie aber zu schnell absetzt, kann das psychotische Symptome als Entzugserscheinungen verursachen. Ich fühlte mich oft allein gelassen, nicht ernst genommen und nicht verstanden. Dass Neuroleptika tatsächlich Psychosen verhindern, ist nämlich trotz jahrzehntelanger Forschung nie bewiesen worden. Und trotzdem hatte ich als Patientin in einer psychiatrischen Klinik keine Wahl – es war klar, dass ich Neuroleptika nehmen musste, eine Diskussion war nicht möglich.
Was ich mir für Menschen «wie mich» wünsche, ist mehr Verständnis. Ihr müsst nicht unsere Wahrnehmung verstehen. Aber es wäre schön, wenn ihr uns einbezieht und fragt, bevor ihr über uns urteilt. Ich möchte nicht als eine Diagnose wahrgenommen werden, sondern als Mensch. Insbesondere den Begriff «Schizophrenie», der sinngemäss «gespaltene Seele» bedeutet, finde ich sehr stigmatisierend und nichtzutreffend bzw. missverständlich. Meine Seele ist nämlich nicht kaputt. Wenn, dann ist es eher mein Körper, und zwar durch die jahrelange Einnahme von Neuroleptika. Wenn ihr einmal solche Medikamente genommen habt, werdet ihr den Wunsch verstehen, eine möglichst niedrige Dosis davon einzunehmen. Es ist kein Zeichen von «Urteilsunfähigkeit», wenn man eine nicht bewiesene Arbeitshypothese in Frage stellt. Kritisches Denken sollte in einem demokratischen Land erlaubt sein. Die Dopaminhypothese besagt, dass bei psychotischen Menschen zu viel Dopamin ausgeschüttet wird. Durch Neuroleptika wird deshalb die Aufnahme von Dopamin gehemmt. Meiner Meinung nach wird damit nur ein Symptom behandelt. Und durch die «Nebenwirkungen» der Neuroleptika entstehen massive Gesundheitsprobleme.
Neuroleptika verursachen neurologisch einen parkinson-ähnlichen Zustand. Viele Patienten haben z.B. einen schleppenden Gang oder Unruhe oder Zittern in Händen oder Füssen. Die meisten Menschen, die Neuroleptika nehmen müssen, fangen an zu rauchen und konsumieren viel Koffein. Sehr häufig ist eine starke Gewichtszunahme. Bei Frauen kann es zum Ausbleiben der Menstruation durch einen Prolaktin Überschuss kommen. Auch ein Verlust der Libido ist häufig. Die Dämpfung sämtlicher Emotionen führte bei mir zu einer Interessenlosigkeit, welche als depressive Episode diagnostiziert wurde.
Dies sind «nur» die Nebenwirkungen, die mir spontan einfallen. Bitte versteht, dass diese starken Medikamente uns beeinträchtigten und nicht in erster Linie hilfreich sind. Hilfreich während akuter Psychosen finde ich Reizarmut und Kreativität. Mein Gehirn hat alle möglichen Reize verstärkt aufgenommen und versucht, sie in einen Kontext zu bringen und verrückte, beängstigende Zusammenhänge daraus gebildet. Wohltuend empfand ich deshalb die Ruhe der Natur (wo es wenig Menschen hat), oder ein ruhiges (Einzel-)Zimmer ohne TV, Radio, Bilder an der Wand etc. Hilfreich war auch die kreative Beschäftigung, um meine Gefühle zu verarbeiten. Die Arbeit mit den Händen oder auch mit dem Körper (Bewegungstherapie) haben meine gesunden Anteile gestärkt, mein Selbstvertrauen gefördert und positive Erfahrungen ermöglicht. Das half mir besser, als auf die «kranken» Anteile (das Denken und Erleben) zu fokussieren.
Ein letzter Wunsch: Bitte habt keine Angst vor Menschen, denen die Diagnose «Schizophrenie» gestellt wurde. Die allermeisten psychotischen Menschen sind höchstens für sich selbst gefährlich. Sie benötigen Hilfe in Form von echtem Interesse, ernst nehmen, zuhören, begleiten. Gewalt, Drohungen und Zwang sind niemals hilfreich. Mir ist es in psychotischen Phasen sehr schwergefallen, die Gefühle anderer Menschen nicht zu meinen zu machen, mich «abzugrenzen». So habe ich teilweise meine eigenen Gedanken auf andere projiziert oder mich selbst schlecht gefühlt, wenn andere sich schlecht gefühlt haben. Womöglich hatte ich deshalb so viel Angst, weil ich die Angst meiner Mitmenschen spürte. Ich möchte niemandem Angst machen, ich kenne dieses Gefühl leider viel zu gut. Aber ich möchte mich für meine Bedürfnisse einsetzen, auch wenn meine Meinung nicht derjenigen der meisten Psychiater entspricht. Wenn eine Diskussion nicht möglich ist, ohne dass ich bedroht werde, versteht ihr vielleicht, dass ich auch etwas aggressiv geworden bin. Aber ich möchte niemandem etwas antun. Ich möchte mein Leben leben.
Danke für euer Interesse!
Emilie S.